Die türkischen Präsidentschaftswahlen 2023

Kurz vor dem 100. Jahrestag der türkischen Republik offenbart der knappe Sieg von Präsident Recep Tayyip Erdoğan bei den Wahlen am 28. Mai 2023 eine in weltanschaulicher Hinsicht zutiefst gespaltene türkische Gesellschaft.

Rüdiger Braun
Präsident Erdogan überblendet mit der türischen Flagge

Noch kurz vor der Präsidentschaftswahl in der Türkei hatte der in Deutschland lebende türkische Oppositionelle Can Dündar auf einen Sieg der von der säkular ausgerichteten Cumhuriyet Halk Partisi (CHP) und ihrem Vorsitzenden Kemal Kılıçdaroğlu (CHP) angeführten Parteienallianz gehofft und zu träumen gewagt, dass bereits am 29. Oktober 2023, zum 100. Jahrestag der türkischen Republik, „die Trümmer der Erdoğan-Herrschaft beseitigt sein“1 würden. Mit „Trümmern“ dürfte er neben der wirtschaftlichen Stagnation, der galoppierenden Inflation und der wachsenden Arbeitslosigkeit in dem jüngst noch von einem schweren Erdbeben heimgesuchten Land vor allem die Konsequenzen einer zunehmend antidemokratischen und antipluralistischen Politik des AKP-Regimes im Blick gehabt haben.

Dabei hatte der Aufbau einer „neuen Türkei“ (Yeni Türkiye), die Erdoğan seinen Landsleuten unmittelbar nach dem Erdrutschsieg der von ihm geführten „Partei für Gerechtigkeit und Entwicklung“ (AKP) im November 2002 versprach, so hoffnungsvoll begonnen. Mitten in einer schweren wirtschaftlichen und politischen Krise hatte die erst ein Jahr zuvor gegründete Partei aus dem Stand heraus die absolute Mehrheit im Parlament errungen und seither alle türkischen Parlamentswahlen gewonnen. Zu den wichtigstenWählergruppen zählten (und zählen noch heute) gläubige Musliminnen, die aufgrund ihres Bekenntnisses zu einer islamischen, mit dem Kopftuch nochmals unterstrichenen Lebensweise über Jahrzehnte hinweg durch eine zutiefst repressive Säkularisierungspolitik akademisch wie politisch ausgegrenzt waren. Mit dem Sieg der AKP 2002 stand ihnen nun die Möglichkeit offen, mit Kopftuch an der Universität zu studieren oder als Abgeordnete im Parlament vereidigt zu werden. Nur zehn Jahre nach dem Erdrutschsieg der AKP hatte sich im Zuge eines Wirtschaftsaufschwungs das Bruttoinlandsprodukt des Landes mehr als verdreifacht und der „anatolische Tiger“ genannte muslimisch-konservative Mittelstand der Türkei – mit Hilfe der Vergabe üppiger Staatsaufträge – den Beweis dafür erbracht, dass sich islamischer Glaube und ökonomischer Fortschritt, Tradition und Moderne spannungsfrei miteinander versöhnen lassen.

Die Wende setzte im Frühsommer 2013 mit der gewaltsamen Niederschlagung der Gezi-Park-Proteste in Istanbul ein, die eine junge, kosmopolitisch orientierte Generation zur Erhaltung eines beliebten Parks im Herzen der Stadt organisiert hatte. Der gescheiterte Putschversuch der Armee am 15. Juli 2016 bildete schließlich das Fanal zu einer nachhaltigen Aushöhlung der demokratischen Strukturen des Landes: Nur ein Jahr später ersetzte Erdoğan nach einem Verfassungsreferendum die parlamentarische Demokratie und die Gewaltenteilung durch ein vollständig auf ihn zugeschnittenes Präsidialsystem, das ihn – als Staats-, Regierungs- und Parteichef in Personalunion – mit nahezu unbegrenzten Machtbefugnissen ausstattet: Es genügt ein Fingerzeig, um Polizei und Staatsanwaltschaft in Bewegung zu setzen, gegen Kritiker, Künstler:innen, Lehrer:innen, Ärzte, Rechtsanwälte, Journalist:innen und Student:innen vorzugehen.

Vor allem die Studierenden sind es, welche die Einlösung von Erdoğans seit Beginn des Millenniums in unzähligen Wahlkampfreden gegebenem Versprechen erschweren, eine neue „fromme Generation“ zu erziehen. Urbanisierung, Digitalisierung und Globalisierung haben die türkische Gesellschaft zumindest in den großen Städten wie Istanbul, Izmir und Ankara in den letzten zwei Jahrzehnten sehr viel stärker geprägt als die frommen Pläne des Regierungschefs. Allerdings sind in der türkischen Provinz – die in dem riesigen Flächenland immer noch den Großteil der Bevölkerung beherbergt – die Vorbehalte gegenüber der globalisierten Moderne nach wie vor groß.

Als „Schwarztürke“, also als Türke aus der Provinz, hat sich Erdoğan in seinem Wahlkampf wiederholt in ausnehmend destruktiv-diskriminierender Rhetorik über die städtischen „Weißtürken“ und deren am degenerierten Westen (LGBTQ+, Gender, Wokeness usw.) ausgerichtete, religionsdistanzierte Weltanschauung ausgelassen. Mit seiner Beschwörung eines Kulturkampfes zwischen islamischer Moral hier und laizistisch-atheistischer Dekadenz dort hat er die in der Türkei ohnehin schon bestehenden tiefen gesellschaftlichen Gräben weiter vertieft.

Mit dieser radikal kulturkämpferischen Rhetorik kehrte Erdoğan zu seinen parteipolitischen Anfängen in den 1980 Jahren zurück. Damals saß er der Refah-(Wohlfahrts-)Partei (RP) vor, eine aus der Milli Görüş („Nationale Weltsicht“)-Bewegung hervorgegangenen islamistischen Partei, die nach dem Vorbild von Necmettin Erbakan (1926-2011), deren Gründer, eine explizit islamische Wohlfahrtspolitik propagierte. Doch spätestens mit dem Militärputsch von 1997 war für islamisch-konservative und islamistische, der Muslimbruderschaft nahestehende Politiker klar, dass eine zu gewichtige islamische Politik und Rhetorik alsbald das Militär auf den Plan rufen würde. Die 2001 gegründete, ebenfalls aus der Milli Görüş-Bewegung hervorgegangene und von Erdoğan in den Wahlkampf geführte AKP stellte sich in ihrer Rhetorik darauf ein und nahm aus pragmatisch-parteipolitischem Kalkül von allzu islamistisch geprägten Sprachbildern Abstand.

20 Jahre später, beim Wahlkampf zur historischen Präsidentschaftswahl im Mai 2023 war davon nichts mehr zu spüren. In einer Rede nur zwei Tage vor der Stichwahl zwischen Erdoğan und seinem Kontrahenten Kılıçdaroğlu ging Erdoğan sogar soweit, seine Anhänger dazu einzuladen, den für ihn bereits feststehenden Sieg der AKP doch gleich zusammen mit der 1453 erfolgten Eroberung Konstantinopels durch Mehmet II. zu feiern. Erdoğan will seine „neue Türkei“ nicht einfach als Fortsetzung der am 29. Oktober 2023 vom Anführer der türkischen Nationalbewegung, Mustafa Kemal Atatürk, ausgerufenen Republik verstanden wissen. Erdoğan denkt in (neo-)osmanischen Kategorien und lässt seine Türkei sehr viel früher, mit dem Sieg über das byzantinische Konstantinopel (1453 u.Z.) und – wichtiger noch – mit der siegreichen Schlacht gegen den byzantinischen Kaiser Romanos IV. bei Manzikert (1071 u.Z.) beginnen.

Angesichts der weit ausgreifenden, gleichsam welthistorisch-religiösen Dimension, die Erdoğan nicht nur seinem Wahlkampf, sondern seiner gesamten Präsidentschaft gab, und der vollständig gleichgeschalteten, regierungshörigen Medienlandschaft, die den Wahlkampf des Amtsinhabers nach Kräften unterstützt und den seines Kontrahenten mehr oder weniger ignoriert hat, ist es mehr als ein Achtungserfolg, dass es dem Vorsitzenden der (von Atatürk 1923 gegründeten) CHP, Kılıçdaroğlu, gelang, nahezu die Hälfte der türkischen Wahlberechtigten (48 %) auf sich zu vereinen. Dass Erdoğan mit 52 % der Stimmen den Sieg davontrug, hat er nicht nur, aber auch seiner großen Anhängerschaft unter den 1,5 Millionen wahlberechtigten Deutschtürken zu verdanken, die ähnlich wie bereits 2017 – damals waren es 65%, diesmal 67% –, eine Fortsetzung der Herrschaft Erdoğans wünschten. Das liegt zum einen an den von ihnen konsumierten, nahezu vollständig vom Regime kontrollierten türkischen Medien, die dem Amtsinhaber den größeren Bekanntheitsgrad und damit einen Wettbewerbsvorteil verschaffen. Es liegt zum anderen aber auch am Nimbus Erdoğans als aufrechter Anwalt der (nicht nur türkischen) Muslime und als Vater der „neuen Türkei“.

Mag dieser Nimbus auch mittlerweile angekratzt sein, gilt Erdoğan immer noch als der starke Mann der Türkei, dem es zu Beginn des neuen Millenniums – nach Jahrzehnten wiederholter Machtübernahmen durch das Militär (Putsche 1960, 1970, 1980, 1997) – gelang, islamische Tradition und moderne Demokratie (zumindest temporär) miteinander zu versöhnen und die Türkei mit höchst ambitionierten Infrastrukturprojekten (u.a. dem größten Flughafen der Welt) zu modernisieren. Den Auswirkungen der gegenwärtigen wirtschaftlichen Misere des Landes nicht ausgesetzt, sehen viele türkeistämmige Deutsche Erdoğan als einen der Ihren, als einen, der sich aus ärmlichen Verhältnissen hochgearbeitet hat, von der kemalistischen Elite nicht unterkriegen lässt und nun mit den Mächtigen der Welt, der USA, China und Russland auf Augenhöhe zu kommunizieren in der Lage ist.

Die Unterstützer der AKP in der Türkei selbst dürften, anders als deren deutsche Parteigänger, die Minderung des Lebensstandards durchaus am eigenen Leibe gespürt haben. Doch sehen sie die Schuld dafür nicht bei Erdoğan, sondern machen die vermeintlichen Feinde der Türkei verantwortlich, „den Westen, die PKK, die Gülen-Gemeinde, so wie es Ihnen die Regierungspropaganda über Jahre hinweg eingebläut hat“.2 Insofern werden sie Erdoğans Einladung, seinen Sieg vor dem fast weltgrößten Präsidentenpalast zu feiern, zumindest in Gedanken, gerne folgen. Der nicht unbeachtliche Rest von 48% wird mit dem inhaftierten Philanthropen Osman Kavala auf die nächste Wahl und auf die wenigen fehlenden Prozent zum Sieg der Opposition hoffen.3 Der Exilant Can Dündar hingegen fragt sich, wie Menschen, die über Jahre hinweg ausgegrenzt, beleidigt und zu Feinden gemacht wurden, wieder zu Freunden werden können? Wie soll sich je eine Gesellschaft wieder „normalisieren“ können, „die daran gewöhnt ist, jeden Tag und jede Stunde mit der Stimme, dem Bild, dem aggressiven Stil, den Hassreden und den beleidigenden Worten des ‚einen Mannes‘ zu leben?“4 Wenn Erdoğan gewinnt, so glaubte Dündar mit vielen anderen Türken noch vor der Wahl, wird dieses Land nicht mehr zur Demokratie zurückkehren und Deutschland eine „neue Migrationsbewegung“ erleben. Umfragen scheinen ihm recht zu geben: Ihnen zufolge würden „fast drei Viertel der Türkinnen und Türken zwischen 18 und 25 Jahren das Land verlassen, wenn sie könnten“.5 Welche Sorgen, Ängste und Hoffnungen die junge Generation, von der Erdoğan hoffe, sie würde die „religiöse Generation“ (dindar nesil) werden, in der Türkei umtreibt, lässt sich in einer der derzeit beliebtesten Politiksendungen der Türkei, dem nicht über TV, sondern über den Streamingdienst YouTube laufenden „offenen Mikrofon“ (mevzular açık mikrofon)6 nachverfolgen. Der durch die digitalen Medien beförderten Macht der freien Meinung wird auch der neue Sultan früher oder später seinen Tribut zollen müssen.
 

Anmerkungen

  1. Can Dündar: Wenn der Tag kommt, in: Der Spiegel Nr. 19 (6.05.2023), 18f.
  2. Şebnem Arsu/Maximilian Popp/Özlem Topçu: Erschüttert, in: Der Spiegel Nr. 19 (6.05.2023), 11.
  3. Turkish activist Osman Kavala, „We have a strong political opposition“, in: Qantara.de 9.05.2023, https://en.qantara.de/print/49936 (alle Aufrufe: 1.06.2023).
  4. Can Dündar: Wenn der Tag kommt, in: Der Spiegel Nr. 19 (6.05.2023), 19; nachfolgendes Zitat: ebd., 18.
  5. Şebnem Arsu/Maximilian Popp/Özlem Topçu: Erschüttert, in: Der Spiegel Nr. 19 (6.05.2023), 10.
  6. https://www.youtube.com/watch?v=EWUEOnTvJjM.